• Germanische Speerspitze mit Messingeinlagen (Detail)

Mythos Germanien

Text aus der Ausstellung „Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz“, die vom 10. März bis 8. September 2013 im Focke Museum Bremen – Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte – lief.

Mit dem Begriff „Germanien“ verbinden sich ganz unterschiedliche Vorstellungen und Assoziationen. Dabei gab es kein Volk, das sich selbst Germanen nannte oder seine Heimat als Germanien titulierte. Dieser einst von den Römern erfundene Oberbegriff für die auf der rechten Rheinseite lebende Bevölkerung erlebte über die Zeit hinweg verschiedene ideologische Aufladungen. Während des Nationalsozialismus arbeiteten Archäologen der Politik selbstständig zu und lieferten angebliche Belege für die germanische Hochkultur und ihr großes Siedlungsgebiet. Damit wollte das NS-Regime die eigene Überlegenheit beweisen und Besitzansprüche auf Territorien in den Nachbarländern legitimieren.

Funde und Erfindung

[…] Erstmals verwendeten den Begriff „Germanien“ die römischen Schriftsteller Caesar und Tacitus. Um Christi Geburt bezeichnen sie damit ein Land, das geografisch vage nördlich der Donau und östlich des Rheins liegt. Als Ende des 15. Jahrhunderts die verschollen geglaubten Schriften des Tacitus wiederentdeckt werden, entwickelt sich die Vorstellung von den Germanen als einem Volk mit gemeinsamen Sitten und Bräuchen. Starken Auftrieb bekommt die Idee durch die Befreiungskriege gegen Napoleon (1813–1815). Die Germanen werden seitdem zunehmend für eine biologische Abstammungsgemeinschaft gehalten, wozu auch die entstehende Archäologie ihren Beitrag leistet. Diese Entwicklung verschärft sich nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und den damit verbundenen vermeintlich germanischen Gebietsverlusten radikal.

Germanischer Gürtel (Replik)

Propagierung einer Idee

Archäologie und NS-Propaganda arbeiten Hand in Hand, um die Germanen als vermeintliche Ahnen der Deutschen in den Vordergrund zu rücken. Im alltäglichen Leben, in modern aufbereiteten Ausstellungen und in der politischen Bildungsarbeit werden die Lebenswelt und der Charakter der Germanen massenhaft idealisiert. Sie treten als bodenständige Bauern, tugendhafte Vorfahren, heldenhafte Entdecker und kriegerische Eroberer auf. Diese Germanenbilder sollen die Bevölkerung für die nationalsozialistische Idee der Volksgemeinschaft begeistern und auf den Krieg vorbereiten.

Auf der Suche nach Belegen

Archäologen wie Laienforscher suchen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges verstärkt nach Belegen für eine vermeintliche Kulturhöhe der Germanen. Die Nationalsozialisten greifen diese Suche zur Stützung ihres eigenen Weltbildes auf. Mit ihrer Machtübernahme 1933 verbessern sie die Finanzen und das Ansehen der Archäologie. Die Universitäten richten neue Lehrstühle ein, die Bodendenkmalpflege wird ausgebaut. Selbst in der NSDAP entstehen entsprechende Forschungseinrichtungen. Die fachlich besten Archäologen der damaligen Zeit führen reichsweit Ausgrabungen mit modernsten Methoden durch. Als überzeugte Nationalsozialisten versuchen sie die Ursprünge und Kulturhöhe der Germanen bis in die Steinzeit zurück zu verfolgen. So wollen sie eine kontinuierliche Ahnenfolge über die Jahrtausende belegen.

Eroberung Europas und der Welt

Das Siedlungsgebiet der germanischen Völker hat sich in der Vorstellung der Nationalsozialisten weit über die deutschen Reichsgrenzen ausgedehnt. Daraus leiten sie weitreichende Gebiets- und Machtansprüche ab. Die Archäologen unterstützen die Idee eines europäischen Großgermaniens. Seit Kriegsbeginn 1939 nutzen sie jede Gelegenheit, um hinter der Front vermeintlich Germanisches auszugraben. Dabei setzen sie sogar Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ein. In Osteuropa plündern die Archäologen Museen und drängen einheimische Wissenschaftler aus ihren Ämtern. Nord- und Westeuropäer versuchen sie dagegen als Kollaborateure zu gewinnen, indem sie sich auf gemeinsame germanische Vorfahren berufen. Mit ihren Aktivitäten unterstützen die NS-Archäologen den Ausgrenzungs- und Vernichtungskrieg.

Der Mythos lebt weiter

Fast alle deutschen Archäologen haben sich an der Verbreitung nationalsozialistischer Ideen und der Plünderung von Kulturgütern beteiligt. Nach dem Zweiten Weltkrieg können die meisten von ihnen ihre Karrieren dennoch weiterverfolgen. Ebenso sind die in der NS-Zeit von den Archäologen verfestigten Germanenbilder noch lange Jahre in Schulbüchern und Ausstellungen zu finden. Bis heute halten sie sich in der Alltagskultur und werden werbewirksam eingesetzt.

Eine stärkere Rolle spielt der Mythos Germanien für Rechtsextreme. Ihre Verbundenheit damit demonstrieren sie durch den bewussten Einsatz vermeintlich germanischer Zeichen und Traditionen. Das Internet erleichtert und beschleunigt die weltweite Verbreitung und Vermarktung ihrer rassistischen Ideologien immens.
Vielen Dank an das Focke Museum für die Überlassung des Textes.

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